Äthiopien

Die Karawane zieht nach Äthiopien - oder der Sprung ins kalte Wasser

Afrika - eigentlich ein Kontinent, in unseren Köpfen aber oft behandelt als ein einziges großes Land. Dennoch erschien es mir nicht als „Afrika“, als ich 2008 Ägypten mit dem Fahrrad erreicht hatte. Ich fühlte mich nicht, als wäre ich nach Afrika geradelt.

Unter Afrika stellte ich mir Länder vor wie Kamerun, Botswana, Äthiopien… die weiße Sicht auf Afrika eben.

Und gleichzeitig hatte ich ungeheuren Respekt vor diesen Ländern. Vor was hatte ich eigentlich Respekt? Vor den Menschen, vor deren Problemen, vor den Gefahren, vor all der Komplexität dieses mir fremden Kontinents?

Nun also Äthiopien, rein ins „kalte Wasser“ und schwimmen lernen!
Aber was haben wir dort eigentlich verloren? Haben wir und unsere Vorfahren nicht schon genug kolonialistischen Schaden angerichtet und tun dies vielleicht sogar weiter, indem wir versuchen, den Menschen zu helfen, indem wir sie durch unsere finanzielle Unterstützung womöglich weiter in einer Abhängigkeit belassen, die nicht gut und nicht würdevoll ist?

Andererseits fliehen viele Menschen aus Eritrea, Sudan und Somalia nach Äthiopien, weil das leichter geht als in die Festung Europa zu gelangen. Und viele junge Menschen aus Äthiopien träumen von einer besseren Zukunft in Europa und Nordamerika.

Ist es also besser, demütig und schuldbewusst die ankommenden Geflüchteten zwar möglichst willkommen zu heißen, aber nicht proaktiv in den Herkunftsländern Fluchtursachen zu bekämpfen?

Oder gilt auch hier das große Prinzip der Menschheitsfamilie: Wenn Du brauchst, was ich habe, dann teile ich mit Dir!?

Und jetzt – Zoom: die Kugel auf der wir leben - der afrikanische Kontinent - Äthiopien im Osten - über die Grenze zu Dschibuti und Eritrea das Siedlungsgebiet der Afar. Genau hierher hat es uns hin gezogen. Besser gesagt hat uns Maalika (westlich: Valerie Browning, aber ich entscheide mich hier für ihren Afar-Namen) hierher gelockt, und noch viel mehr das, was sie mit ihrer Organisation APDA hier macht.

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APDA (Afar Pastoralist Development Association) ist eine Vereinigung zur Unterstützung des Hirten- und Nomadenvolks der Afar. Die Afar machen gerade einmal etwas mehr als zwei Prozent der Gesamtbevölkerung Äthiopiens aus, stehen mit ihrem Schicksal aber exemplarisch für viele der unzähligen Ethnien Äthiopiens und ganz Afrikas. Durch willkürliche Grenzziehungen der Kolonialmächte, ohne Rücksichtnahme auf ihr Siedlungsgebiet und ihre nomadische Lebensweise wurden die Afar in mehrere „Nationalstaaten“ getrennt. Die Auswirkungen sind bis heute spürbar. Erst vor wenigen Monaten endete einer der blutigsten Bürgerkriege unserer Tage. Die Volksbefreiungsfront der Tigray (TPLF) wollte die Kontrolle über die wichtigste „Autobahn“ und Handelsstraße vom und zum Hafen von Dschibuti erlangen, welche zu großen Teilen durch Afargebiet führt. Die Afar waren damit nicht einverstanden und Männer wie Frauen kämpften in einem grausamen Krieg dagegen an.

Obwohl die Leichenfelder erst vor kurzem geräumt wurden, redet außer Maalika heute kaum jemand mit uns über dieses düstere Kapitel. Heute geht es für die Afar wieder um Dinge wie die Gesundheitsversorgung im Busch, die Wasserknappheit, die ausgewogene Ernährung…

Sie sind ein Hirtenvolk, ihre Ernährung besteht zum Großteil aus Ziegen-, Kuh- und Kamelmilch. Ab und zu auch Fleisch, aber eine Ziege ist teuer (20,- bis 30,-€), und so mangelt es nicht nur an Vitaminen, sondern auch an Proteinen. Eine Kuh gibt zu dieser Trockenzeit gerade einmal einen Liter Milch am Tag. Ziegen scheinen „Allesfresser“ zu sein und knabbern selbst an dem Plastikmüll, der auch hier bis weit in den Busch zu finden ist.

Nicht ausgewogen und zudem unterernährt besitzen diese Menschen nur wenige Abwehrkräfte, ihr Immunsystem ist am Boden. Bemerkenswerterweise war Covid-19 hier dennoch kaum ein Thema, erzählt Valerie, ein paar Trucker brachten die Infektion von Dschibuti nach Äthiopien, doch das Virus konnte hier nicht Fuß fassen.

Diese Menschen haben andere gesundheitliche Probleme: Malaria, Cholera, Masern, Durchfall…

Die Säuglings-Sterberate ist sehr hoch. Wenn es bei der Geburt Komplikationen gibt, sind es oft mehrere Tage Fußmarsch bis zur nächsten Krankenstation. Viele Frauen oder ihre Babys sterben auf den improvisierten Krankenbahren. Und selbst im Allrad Landcruiser, so erzählt Maalika, schaffen es die Frauen mit Hilfe der Helfer von APDA oft nicht mehr rechtzeitig.

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Es vergehen bei Maalika in Samera nicht einmal zwei Tage, bis wir einmal mehr erfahren, wie der mächtige Westen auch hier seine todbringenden Finger im Spiel hat. Kriegsparteien wie die Tigray wurden international nicht nur medial, sondern auch mit Waffen unterstützt. Der Hafen in Dschibuti bedeutet für unsere Staaten das kommerzielle Bindeglied zwischen Nah- und Fern-Ost, Afrika und Europa. Fast ebenso wichtig sind auch die an den Hafen anschließenden Handelsstraßen durch den afrikanischen Kontinent.

Die Verquickung von Entwicklungshilfe und Korruption wird an der Tendaho-Zuckerfabrik in Asaita, ebenfalls Afar-Region, deutlich. Noch heute wird dieses Projekt im Internet als Fortschritt für die lokale Afar-Bevölkerung gepriesen: Moderne Viehzucht, soziale und wirtschaftliche Vorteile durch dutzende von Arbeitsplätzen sollte das Werk bringen. Tatsächlich war es nur ca. drei Jahre in Betrieb und die Facharbeiter hatte der indische Investor zum großen Teil selbst mitgebracht. Aufgrund anhaltender Dürre wurde die Fabrik nach kurzer Zeit als unrentabel eingestuft und geschlossen. Nicht nur wurden für dieses Projekt viele Afar von ihrem Weideland vertrieben, auch wurde durch die Fabrik das Wasser des Awash-Flusses kontaminiert, was für unzählige Menschen entlang des Flusslaufes zu einem weiteren Cholera-Ausbruch führte - für Maalika nur eine von vielen haarsträubenden Geschichten in den Jahrzehnten, die sie hier versucht die Situation für die Afar zu verbessern, bzw. deren Überleben als Nomaden- und Hirtenvolk überhaupt zu ermöglichen.

Unermüdlich und rund um die Uhr kämpft diese zierliche, kleine weiße Frau gegen Windmühlen. Sie ist ständig in Bereitschaft für medizinische Notrufe, sie hält den Kontakt zu Politik, Botschaftern und internationalen NGOs wie der Unicef, der WHO, der Welthungerhilfe… obwohl gerade diese Arbeit sie am meisten Nerven kostet. Bittet sie in einer akuten Dürre-Katastrophe Unicef um Hilfe für Wasserlieferungen, dauert der Genehmigungs-Prozess in dieser Riesen-Organisation teils Wochen. In dieser Zeit wären die Menschen längst dehydriert und verdurstet. Also geht sie bzw. APDA in Vorleistung und nicht selten drücken sich die großen NGOs im Nachhinein mit irgendwelchen bürokratischen Ausreden vor ihrer finanziellen Verantwortung.

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Maalika ist gelernte Krankenschwester und noch immer ist die gesundheitliche Versorgung ihr Steckenpferd. Über mehre Tage dürfen wir ihre einheimischen Mitarbeiter von APDA in den Busch nahe der Kleinstadt Chifra begleiten. Eine Masern-Impfaktion steht auf dem Plan. Der Lebend-Impfstoff muss immer gekühlt sein, daher ist eine entsprechende Logistik die wichtigste Vorarbeit für die Tage im Busch. Riesige Kühlboxen werden auf und in unser Fahrzeug geladen, und während dieser Tage wird der Fahrer immer wieder zur nächsten Krankenstation zurückkehren, um neue Kühlpacks und Impfstoff zu holen.

Was afrikanische Gelassenheit bedeutet, lernen wir hier nebenbei: Immer wieder heißt es stundenlang warten im Schatten eines Baumes oder vor einer Bretterbude mit feinem äthiopischen Kaffee. Nach und nach sind alle Vor-Ort-Helfer aus allen Himmelsrichtungen eingetroffen, der Impfstoff bereit und die Aktion kann beginnen.

Doch schon bei der zweiten Station, einem Afar-Clan mitten im Busch, kommt die Sache ins Stocken. Die Masern sind hier ausgebrochen. Unter ein paar Bäumen sitzen einige Männer und noch mehr Mütter mit ihren Kindern.

Man erzählt uns, diese Menschen seien dort isoliert vom Rest des Clans und es gilt nun ganz schnell zurückzufahren, um Antibiotika zu besorgen. Wir warten derweil unter einem anderen Baum zusammen mit diesen wunderschönen Menschen. Die jungen Männer haben teils kugelrunde Afro-Frisuren und als Statussymbol oft eine abgegriffene Kalashnikov an den Schultern baumeln - AK47 statt iPhone12 also.

Während wir warten, wird uns frische, ultrafette Kuhmilch angeboten und nach ca. einer halben Stunde ist klar, dass uns ein kleines Zicklein geschenkt wird, welches auch gleich geschlachtet und gekocht werden soll. Wir können dies nicht verhindern und es wäre auch ein Verstoß gegen die Gastfreundschaft. Noch am vorigen Abend haben wir drei Europäer uns unterhalten wie monoton unser Speiseplan in den letzten Tagen ausgesehen hat: dreimal täglich Injera (Pfannkuchen-Fladen) mit Shiro (Kichererbsen-Eintopf). Nun also junges Zicklein und als Vorspeise ein dicker Brei aus Mehl, angerührt mit kaltem Wasser, Salz und zerlassener Butter - die unmittelbar zuvor aus der fetten Milch gewonnen wurde. Alle essen schmatzend mit den Händen aus dem selben Topf.

Nachdem sich die Männer zum Mittagsschlaf auf die Matten unter den Bäumen gelegt haben, mache ich mich auf den Weg zu den isolierten, an Masern erkrankten Menschen. Die Kinder haben verklebte Augen, sind ohnmächtig oder schlafen, oder blicken völlig apathisch ins Nichts. Ich erfahre, dass viele, wenn sie das hier überleben, ihr restliches Leben lang erblindet sein werden. Als die Helfer von APDA mit den Antibiotika zurückkehren, überwinde ich meine Scham und fotografiere mit Zustimmung der Anwesenden die Situation. Am nächsten Tag werden wir erfahren, dass zumindest eines dieser Kinder diesen Nachmittag nicht überleben sollte. Die Impfung und die Antibiotika kamen zu spät, und das lag bestimmt nicht an der afrikanischen Gelassenheit…

In diesen Tagen wollte die äthiopische Regierung Maalika verbieten, mit der Impfaktion fortzufahren. Maalika meint, die Regierung habe selbst ein Impfprogramm am Laufen, und wenn nun APDA auf eigene Faust in den Busch ziehe, um zu impfen, könnte der Eindruck entstehen, die Regierung habe dieses Problem nicht im Griff…

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Immer wieder kommen in diesen Tagen die Menschen auf uns zu und schildern uns ihre gesundheitlichen Probleme. Meist denken sie, wir seien Ärzte. Wir sind aber leider nur Fotografen.

Ein Vater kommt mit seinem ca. 15-jährigen Sohn zu uns und lässt übersetzen, dass sein Sohn als junger Bub von einer Hyäne in den Kopf gebissen wurde. Die große Narbe über seinem linken Auge ist bis heute nicht zu übersehen. Er klagt, dass sein Junge seither nur mit einem Auge sehen könne. Das andere Auge sei noch voll intakt, aber die Vernarbung drücke so stark auf das Augenlied, dass er es nicht öffnen könne. Um dies zu veranschaulichen, dreht er dem Jungen den Kopf in den Nacken und hebt mit seinen Fingern das Augenlid an. Aus der Augenhöhle blickt uns ein zweites Auge an. Der Junge scheint etwas verschämt aufgrund dieser Vorführung. Auch wir können nichts anderes tun als betroffen die Hand auf’s Herz zu legen und ihm zu wünschen, er möge irgendwann operiert werden, was des Vaters eigentliche Hoffnung und Bitte an uns war.

Wir haben in diesen Stunden auch hier etliche dieser schönen, stolzen jungen Männer fotografiert. Wie Fotomodels standen sie Pose, mit ihren wunderbaren Frisuren, und gaben hernach genaue Anweisungen, welches der Bilder ihnen nicht gefällt und wir es deshalb wieder zu löschen haben.

Dieser Junge mit der Narbe hatte auch eine so schöne Lockenpracht auf dem Kopf. Dennoch hat sich keiner von uns getraut, ihn zu fotografieren. Es erschien uns wohl pietätlos, das Leid dieses jungen Mannes zu portraitieren. Der Junge stand noch die ganze Zeit in unserer Nähe und hat gerade mich immer wieder sehr eindringlich angeblickt. Ich konnte ihm nur hin und wieder zulächeln und versuchen, zumindest nonverbal, mit Blicken mit ihm zu kommunizieren. Dennoch habe ich ihn wahrscheinlich nicht verstanden. Bei unserer Abfahrt, ich sitze im Font unseres Landcruisers, schaut er durchs offene Fenster herein, wieder mir direkt in die Augen. Erst unterwegs dämmert mir, dass wohl auch dieser schöne Junge gerne hätte fotografiert werden wollen- gerne hätte vielleicht auch er sich einmal schön und fotografierenswert gefühlt. Aber wie wohl so oft in seinem Leben, war er auch diesmal wieder ein Sonderling. Einer, den der Europäer, der da so unverhofft zu ihm in den Busch kam, nicht als schön empfindet, den er nicht als Erinnerung in seiner Kamera mit nach Hause nehmen will.

Oft sind es aber die nicht fotografierten Bilder, die den stärksten Eindruck in uns hinterlassen.

In meinem Herzen hat er gerade deswegen einen Platz gefunden.

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An unserem letzten Tag bei den Afar können wir noch der Lehrerausbildung beiwohnen. Auch hier sind es Menschen aus den jeweiligen Clans, die hier lernen, den Kindern mit einfachsten Mitteln im Schatten eines Baumes zumindest Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen. Auch ihre eigene Kultur soll den SchülerInnen durch selbst aufgelegte Bücher mit Afar-Geschichten und Erzählungen vermittelt werden.

Am letzten Abend eine Einladung in Maalikas Privathaus: Neben all ihren Tätigkeiten betreibt sie in ihrem einfachen, typisch äthiopisch-sporadischen Vierseit-Compound eine Art Frauenhaus und Kinderheim. Ca. 10-15 alleinerziehende Mütter mit ihren Kindern und einige Waisenkinder haben hier Zuflucht gefunden. Wir werden von den Kindern per Umarmung empfangen und von ihnen aufgefordert, zur scheppernden Radiomusik einer alten Stereoanlage zu tanzen. Hier erleben wir, wie Maalika, bei all ihrer kämpferischen Natur, eine ebenso herzliche und liebevolle Ersatzmutter und -großmutter sein kann. Nicht zu unrecht wird sie von vielen als „Mama-Afar“ bezeichnet.

Zusammenfassend können wir sagen, „APDA“ ist eine Organisation von den Afar für die Afar. Jedes einzelne Projekt wirkt durchdacht und scheint auf Augenhöhe mit den Menschen zu sein. Die MitarbeiterInnen sind größtenteils selbst Afar, kennen die Problematik dieser Region aus eigener Erfahrung und werden selbst in den abgelegensten Busch-Dörfern respektiert und ernstgenommen.

Selbst für die Afar ungewöhnliche, aber vitaminreiche Gemüsesorten können durch das Landwirtschaftsprogramm von „APDA“ in den Speiseplan der Menschen integriert werden.

Ihre Löhne und Gehälter sind dem regional üblichen Verdienst angepasst. Unter den Hilfsorganisationen in Äthiopien gilt APDA als die mit dem niedrigsten Lohnniveau. Was in diesem Fall nur gut ist: Viele internationale Organisationen bezahlen für die Region zu hohe Gehälter, was zur Folge hat, dass Fachkräfte aus Bildung, Gesundheit, Verwaltung etc. nur noch für ausländische NGOs arbeiten wollen und dadurch dem heimischen, oft staatlichen System verlorengehen.

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Durch die finanzielle Unterstützung der „Karawane der Menschlichkeit“ kann „APDA“ einigen tausend, akut von der Dürre betroffenen Buschbewohnern über mehrere Monate Trinkwasser liefern, wobei hier mit gerade einmal fünf Litern pro Person und Tag gerechnet wird.

Wir hoffen, so zumindest einen ersten kleinen Beitrag zur Fluchtursachenbekämpfung leisten zu können - ein weiterer kleiner Tropfen auf den immer noch sehr heißen Stein. Aber viele kleine Tropfen ergeben irgendwann auch einen kleinen Fluss!

Wer diesen Fluss noch stärker machen will, kann uns gerne hier unterstützen:

https://karawane-der-menschlichkeit.org/spenden

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